Achtsamkeit
Als junge und ehrgeizige Lehrkraft war ich oft dazu geneigt, besonders gute Tipps und Ratschläge zu geben.
Wenn Schüler oder andere Menschen in schwierigen Situationen sind, wollen wir gerne so schnell wie möglich Lösungen finden. Das ist ja nur gut gemeint, oder? Doch gut gemeint ist wirklich nicht immer gut gemacht.
Die Herausforderung: Ein Schüler mit Herausforderungen
Mir wurde ein 15-jähriger Schüler zugeteilt, der immer wieder in Schwierigkeiten geriet – in der Schule, zu Hause, überall. Ich hatte damals eine Beratungsstunde und dieser Schüler wurde zu mir geschickt, also nicht freiwillig. Ich wollte natürlich helfen, also habe ich mit tausend Vorschlägen, Tipps und Übungen losgelegt, die er machen könnte. Ich sagte ihm auch, es wäre gut, wenn er sich etwas beruhigen könnte.
Er ist ausgerastet. Zurecht.
Ein Wendepunkt: Zuhören statt Reden
Er sagte: „Ich kann mich nicht beruhigen. Ich habe nur Stress, ich schaffe nichts von dem, was von mir erwartet wird, und niemand hört mir zu – auch du nicht. Ich gehe jetzt.“
Ich biss mir auf die Zunge, schluckte meinen Stolz herunter und fragte ihn, ob er bleibt, wenn ich nur zuhöre.
Er sagte: „Das schaffst du doch sowieso nicht, alle texten mich nur zu.“
Ich schaute auf die Uhr und sagte: „Okay, wir haben noch 20 Minuten und ich werde kein einziges Wort sagen, nur zuhören. Wenn ich es nicht schaffe, brauchst du nicht mehr wiederzukommen.“
Stille und die Kunst des Zuhörens
Fünf Minuten Stille. Das war schwer zu ertragen, für mich. Der Schüler saß mir direkt gegenüber und schaute mich einfach an – erst herausfordernd, aber nach und nach wurde es etwas entspannter.
Dann hat er erzählt und ich habe das aktive, achtsame Zuhören geübt.
Im Laufe des Erzählens musste ich mich mehrmals zurückhalten, vor lauter „Ich will etwas dazu sagen“. Nach und nach merkte ich, wie ich mich voll und ganz auf seine Worte und das, was ihn beschäftigt, einlassen konnte und wie es sich anfühlt, 100% präsent zu bleiben – bei ihm, nicht bei dem, was ich vermeintlich dazu zu sagen habe.
Eine neue Perspektive
Dieses Zuhören hat mich auf eine ganz neue Art und Weise berührt und bewegt! Am Ende der 20 Minuten war immer noch etwas Spannung im Raum, aber es fühlte sich trotzdem offen, zugewandt und gegenseitig respektvoll an. Ich habe so viel gelernt in diesen 20 Minuten!
Ich fragte ihn, ob er nächste Woche wiederkommt, und er grinste und sagte: „Wenn du die Klappe hältst!“ Ich nickte und lächelte einfach nur.
Fazit: Die Kraft des Zuhörens
Es ist einfach, anderen zu sagen, was sie tun sollten, müssten, könnten – vor allem, wenn wir in Positionen oder Situationen sind, in denen wir glauben, dass wir es besser wissen.
Was wäre anders, wenn wir einfach zuhören, da sind und in die Erfahrung eintauchen, anstatt den nächstbesten Tipp abzugeben?
Vielleicht sind wir in Situationen mit anderen, die uns triggern und wir wollen, dass sich die anderen anpassen, beruhigen, nachgeben.
Wie wäre es, wenn wir stattdessen zuhören und offen sind für die Erfahrung, die der andere durchlebt, ohne es besser wissen zu wollen?
Teilen wir die Erfahrung, ohne zu bewerten, ohne zu fixen, ohne zu erwarten, dass der andere sich beruhigt. Einfach mit offenen Ohren, Herzen und Verstand dabei sein.
Wann hast Du das letzte Mal nur zugehört?